Bagatellkündigungen. Still alive?
Im berühmt gewordenen Fall Emmely entschied das BAG am 10.6.2010 (2 AZR 541/09; NZA 2010, 1227), anders als beide Vorinstanzen, dass die Kündigung einer Kassiererin, die ihr nicht gehörende Pfandbons im Gesamtwert von 1,30 EUR zum eigenen Vorteil eingelöst habe, unwirksam sei.
Diese Entscheidung wurde ebenso heftig kritisiert wie befürwortet – und warf u. a. die Frage auf, ob ein markanter Wendepunkt in der bis dahin sehr strengen (arbeitgeberfreundlichen) Rechtsprechung erreicht worden sei.
Die Wirksamkeit außerordentlicher Kündigungen, die auf Grund des Vorwurfs oder wegen des Verdachts ausgesprochen werden, ein Arbeitnehmer habe ein vollendetes oder auch nur versuchtes Eigentums- oder Vermögensdelikt oder eine zwar nicht strafbare, aber ähnlich schwer wiegende, unmittelbar gegen das Vermögen gerichtete Handlung zum Nachteil des Arbeitgebers begangen, wurde von den Arbeitsgerichten regelmäßig bestätigt. Dies galt auch für erstmalige Vorgänge ohne vorherige einschlägige Abmahnung und selbst dann, wenn es sich bei dem Tatobjekt, etwa einer entwendeten Sache, um Gegenstände von nur geringem oder gar ohne wirtschaftlichen Wert handelte und die Tathandlung zu keinem oder nur einem geringen Schaden führte – sog. Bagatellkündigung.
Das BAG führte in der Emmely-Entscheidung allerdings aus, dass je länger ein Arbeitsverhältnis unbelastet bestanden habe, umso eher die Prognose berechtigt sein könne, der hierdurch erarbeitete Vertrauensvorrat werde durch einen erstmaligen oder einmaligen Vorfall noch nicht vollständig aufgezehrt. Ggf. könne schon eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrages notwendigen Vertrauens in die Redlichkeit des Arbeitnehmers ausreichen.
Gleichwohl ist keine nachhaltige Änderung der Rechtslage zu verzeichnen. Ausgenommen bleiben allenfalls ein- bzw. erstmalige Vorfälle ohne vorherige Abmahnung, wenn diese vollkommen wertlose oder nahezu wertlose Sachen betreffen. Nach wie vor gilt daher:
Wer sich als Arbeitnehmer am Eigentum seines Arbeitgebers vergreift oder dies auch nur versucht, riskiert seinen Arbeitsplatz – auch bei einem ein- bzw. erstmaligen Fehlverhalten und langjähriger Beschäftigung und keinem oder einem in nur geringer Höhe eingetretenen Schaden. Dies gilt erst recht, wenn dem Pflichtenverstoß eine einschlägige Abmahnung vorausging sowie bei mehrfachem oder bei bewusstem und systematischem Fehlverhalten des Arbeitnehmers. Hier führt die Rechtsprechung ihre bisherige Linie konsequent fort. Auch Sachverhalte ohne oder mit einem nur geringen Schaden berechtigen regelmäßig zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung.
Näher: Gieseler in Gallner/Mestwerdt/Nägele, Kündigungsschutzrecht, § 626 BGB Rn.99, 6. Auflage, erscheint im März 2018.
erschienen in: RegioBusiness, März 2018