Das süße Gift der Hilfsprogramme – Wie kann sich die Wirtschaft wieder vom Tropf lösen?
Zweieinhalb Jahre Dauerkrise in der Welt: zuerst die Coronapandemie und nun der Angriffskrieg in der Ukraine mit seinen Auswirkungen auf die Lieferketten und die Energiepreise. Trotzdem sinken die Insolvenzzahlen in Deutschland weiter. Wir haben Branchenexperten gefragt, wie sie diese Entwicklung sehen.
Der wesentliche Grund für die atypische Entwicklung der Insolvenzzahlen liegt in den massiven Hilfsprogrammen der öffentlichen Hand, mit denen die Auswirkungen der Coronapandemie auf Unternehmen und Beschäftigte abgemildert werden sollten. Es flossen direkte Zuschüsse, die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) gab vergünstigte Kredite aus und bei einigen großen Unternehmen erfolgten direkte staatliche Eigenkapitalbeteiligungen. Unternehmer und Steuerberater mussten neue Begriffe lernen, wie Überbrückungshilfe oder November- und Dezemberhilfe. Es war für alle Beteiligten nicht immer leicht, den Überblick zu behalten, welches Hilfsprogramm aktuell ist und welche Zulassungsvoraussetzungen gelten.
Verwirrung beim Insolvenzrecht
Eine nicht zu unterschätzende Verwirrung herrschte auch hinsichtlich der Regelungen des Insolvenzrechts – konkret bei der Insolvenzantragspflicht. Angesicht der heftigen wirtschaftlichen Auswirkungen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 entschloss sich die Bundesregierung im März zu einer befristeten Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. Diese Regelung galt in einem ersten Schritt bis zum 30. September 2020 – und auch nur für Unternehmen, die durch die Auswirkungen der Coronapandemie in Schwierigkeiten geraten waren. Zum 1. Oktober wurde diese Regelung um drei Monate verlängert – aber mit der Einschränkung, dass die Aussetzung nur für den Insolvenzgrund Überschuldung galt. Zum Beginn des Jahres 2021 gab es eine erneute Verlängerung der Aussetzung von Antragspflichten – allerdings nur noch für Unternehmen, die noch auf Zahlungen aus staatlichen Hilfsprogrammen warteten.
Fehlvorstellungen bei Unternehmen
Die schrittweisen Einschränkungen der ursprünglich umfassenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht drangen aber nur teilweise in die Wirtschaft durch, sodass nicht wenige Unternehmer selbst im Frühjahr 2021 noch überzeugt waren, dass die Antragspflicht weiter ausgesetzt ist. Im Sommer 2021 – nach den Hochwasserkatastrophen in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Bayern – wurde für betroffene Unternehmen erneut die Insolvenzantragspflicht ausgesetzt; allerdings nur dann, wenn aufgrund ernsthafter Sanierungsverhandlungen die begründete Aussicht besteht, dass das Unternehmen sanierbar ist. „Die mitunter hastigen Änderungen des Gesetzgebers und das Kommunikationswirrwarr haben durchaus Fehlvorstellungen bei den Unternehmern aufkommen lassen. Das beobachte ich in meiner Beratungspraxis“, konstatiert Dr. Sebastian Braun von der Kanzlei Reinhart Kober Großkinsky Braun.
Ähnliches hat Dr. Utz Brömmekamp, Geschäftsführer der Unternehmensberatung plenovia GmbH, zu berichten: „Wir haben in unserer Beratungspraxis oftmals die Einstellung von Unternehmern erlebt, unter dem Schutz des Staates zu stehen, der immerhin alle Coronamaßnahmen angeordnet habe und quasi die Verantwortung für unternehmerische Schieflagen trage – ein gefährlicher Trugschluss, denn der Staat kann nur Werkzeuge an die Hand geben, die aber die Geschäftsführung bedienen muss. Sie bleibt auch in Krisenzeiten persönlich im Lead und in der Verantwortung.“
Mehr als 130 Mrd. EUR Hilfen in zwei Jahren
Die Website des Bundeswirtschaftsministeriums weist für das Jahr 2021 aus, dass für die Programme der Überbrückungshilfen II bis III plus sowie für die November- und Dezemberhilfen und die Neustarthilfen 45,9 Mrd. EUR an Unternehmen und Selbstständige ausgezahlt wurden. Dafür mussten von den Behörden 1,6 Millionen Anträge bearbeitet werden. Schätzungen zum Ende des vergangenen Jahres summierten die Zahlungen des Bundes in zwei Jahren Coronapandemie bis Ende 2021 auf rund 130 Mrd. EUR. Davon seien rund 55 Mrd. EUR als Kredite gewährt worden – der Rest in Form von direkten Zahlungen. Die Gesamtzahl der Anträge lag demnach bei vier Millionen. 2020 und 2021 hat die Bundesagentur für Arbeit 24 Mrd. EUR für Kurzarbeitergeld und 18 Mrd. EUR für Sozialleistungen aus der Kurzarbeit aufgewendet. Seitens der KfW lagen die Zusagen für Coronahilfen bei 48 Mrd. EUR in den beiden Jahren.
Das „süße Gift“ der Hilfsprogramme
Nach mehr als zwei Jahren Krise und einer hohen Unterstützung für Unternehmen und Beschäftigte stellt sich die Frage, wie es angesichts des Kriegs in der Ukraine mit seinen vermutlich langfristigen Auswirkungen auch aufgrund der verhängten Sanktionen mit staatlichen Hilfsprogrammen weitergehen soll. Zumindest das Insolvenzrecht ist bisher unangetastet geblieben. Für die Unternehmen stellt die Bundesregierung Bürgschaftsprogramme zur Verfügung und seitens der KfW werden erneut zinsgünstige Kredite ausgegeben. Besteht also eine gewisse Gewöhnung in der deutschen Wirtschaft an die staatlichen Hilfsleistungen? „Die massiven staatlichen Hilfsprogramme sind ein ‚süßes Gift‘, an das man sich gewöhnen kann. Allerdings muss man auch sehen, dass wir gerade absolute Sondersituationen erleben und tiefergehende Schäden vermieden werden sollten. Einige Unternehmen sind schlicht nicht mehr ‚bankable‘ und brauchen andere Hilfen“, so Tillmann Peeters, Gründungspartner und Geschäftsführer von FalkenSteg. Auch Dr. Braun sieht die Notwendigkeit von staatlichen Hilfsprogrammen, denn „Hilfe ist in Sondersituation wichtig und richtig“. Er sieht aber auch die Tendenz, dass „nach zwei außergewöhnlichen Krisen wie den jetzigen und der Gewährung von Hilfen sicher der Ruf nach staatlicher Hilfe bei zukünftigen Krisen laut wird“.
Wie kann eine Exitstrategie aussehen?
„Eine grundsätzliche Erwartungshaltung der deutschen Wirtschaft ist gerade nach den letzten beiden Jahren der Pandemie nicht von der Hand zu weisen. Bei allem Verständnis für die anfänglichen Hilfsprogramme fehlt bis heute eine politische Exitstrategie aus der staatlichen Unterstützung. Dadurch entsteht ein nahezu nahtloser Übergang zu den nächsten, das heißt kriegsbedingten Hilfspaketen“, erklärt Dr. Christoph Niering, Vorsitzender des Verbands Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands e.V. (VID), zur aktuellen Situation.
Oliver Kehren, Vorstandsvorsitzender der TMA Deutschland, pflichtet ihm bei: „In den vergangenen Jahren hat der Staat sich gegenüber den Unternehmen durchaus großzügig gezeigt und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie mit umfangreichen Hilfsprogrammen abgefedert; das setzt sich nun angesichts des Ukrainekriegs fort. Bei einigen Unternehmen tritt dadurch sicherlich ein Gewöhnungseffekt ein, nach dem Motto: In den großen Krisen wird der Staat es schon richten. Aus ökonomischer Sicht ist eine solche Erwartungshaltung zumindest fragwürdig, denn die ureigenen Probleme der Unternehmen – etwa veraltete Geschäftsmodelle oder schlicht Missmanagement – werden zunehmend verdeckt. Die Zeche zahlt der Steuerzahler, und Unternehmen, die verantwortungsbewusst handeln und aktiv Transformationsprozesse anstoßen, werden benachteiligt.“
„Verwöhnkultur“ befürchtet
Dr. Brömmekamp sieht wie seine Kollegen aus der Restrukturierungsbranche einen schleichenden Prozess und mahnt: „Es darf daraus keine ‚Verwöhnkultur‘ entstehen, die Unternehmen bei jeder Krise reflexartig nach staatlicher Hilfe verlangen lässt, anstatt primär die Eigenverantwortung zu stärken. Nur derjenige, der alles in seiner Macht Stehende unternommen hat, ohne die Krise meistern zu können, sollte mit staatlicher Unterstützung aufgefangen werden.“ Prof. Dr. Lucas F. Flöther von der Kanzlei Flöther & Wissing warnt im Gespräch mit der Unternehmeredition vor einer zunehmenden Zahl von scheintoten Unternehmen: „Hilfsprogramme mit der Gießkanne sind immer mit dem Risiko verbunden, Unternehmenszombies weiter am Leben zu halten oder sogar neu zu schaffen – mit den bekannten gefährlichen Konsequenzen.“
Was soll mit dem Insolvenzrecht passieren?
Der Krieg in der Ukraine mit den Folgen aus den Sanktionen gegen Russland und die dauerhaft steigenden Energiepreise haben in der Branche der Insolvenzverwalter und Restrukturierer zu neuen Überlegungen geführt, die das Insolvenzrecht betreffen. Bisher hat der Gesetzgeber hier keine Maßnahmen angekündigt, aber der Gravenbrucher Kreis, ein Zusammenschluss führender Insolvenzverwalter und Sanierungsexperten mit überregionaler Ausrichtung, hat sich kürzlich dafür ausgesprochen, die Planungs- und Prognosefristen anzupassen. Dazu erklärt Verbandssprecher Prof. Dr. Flöther: „Es geht nicht um eine dauerhafte Änderung des Insolvenzrechts, sondern lediglich um eine temporäre Anpassung von Fristen. Das ist angesichts der erheblichen Marktschwankungen auch dringend geboten. Für viele Unternehmen ist eine längerfristige Planung unter den aktuellen Umständen schlicht unmöglich.“ Er macht zugleich aber auch klar, dass sein Verband eine erneute Aussetzung der Antragspflichten strikt ablehnt. Bei der Forderung nach einer zumindest temporären Anpassung der Prognosezeiträume vertritt Kehren eine ähnliche Meinung: „In der aktuellen geopolitischen und gesamtwirtschaftlichen Situation ist es für Unternehmen so gut wie unmöglich, die nötige Prognosesicherheit für einen Zeitraum von zwölf Monaten zu gewährleisten. Geschäftsleitungen stehen damit vor der Wahl, entweder mit einem hohen persönlichen Risiko auf Sicht zu fahren – oder Insolvenzantrag wegen Überschuldung zu stellen, obgleich das Unternehmen im Grunde noch restrukturierbar ist.“
Als Unternehmer auf Sicht fahren?
Die TMA Deutschland habe sich Anfang Mai in einer Stellungnahme dafür ausgesprochen, den Prognosezeitraum auf vier Monate zu verkürzen. Damit würden Unternehmen trotz der aktuellen Marktvolatilität hinreichende Planbarkeit erhalten, ohne zu hohe Haftungsrisiken eingehen zu müssen. „Klar ist, dass diese Privilegierung nur für Unternehmen gelten kann, die vor Beginn des Ukrainekriegs weder zahlungsunfähig noch überschuldet waren“, fügt Kehren an. Für eine temporäre Anpassung der Prognosezeiträume spricht sich auch Dr. Braun aus. Und Dr. Brömmekamp fügt an: „In Anbetracht der künftig rückzahlbaren Coronahilfen in Milliardenhöhe mag eine Verkürzung der Zwölfmonatsfrist vorübergehend sinnvoll erscheinen, um Vorständen und Geschäftsführern mehr Handlungsoptionen einzuräumen und persönliche Haftungsrisiken zu minimieren.“ Eine komplett andere Meinung zu dem Vorschlag hat Dr. Niering: „Nein, das kann nicht der richtige Ansatz sein. Die relevanten Fristen sind gerade erst nach langer und auch unter dem Eindruck der Pandemie stehender Diskussion mit Augenmaß gesetzlich verankert worden. Gerade in Krisenzeiten hat eine vorausschauende Finanzplanung besonderen Wert. Das gilt auch dann, wenn die Krisen nicht hausgemacht sind.“
Überschuldung als Insolvenzgrund abschaffen?
Eine weitere Forderung aus dem Kreis der Restrukturierer ist die Abschaffung des Insolvenzgrundes Überschuldung. Somit würde allein die tatsächliche oder drohende Zahlungsunfähigkeit zu einem Insolvenzantrag verpflichten. Für die öffentliche Hand könnte eine Neuregelung in diesem Bereich wichtig sein, denn immerhin steht eine große Menge an staatlichen Krediten im Feuer. Die TMA plädiert grundsätzlich für eine Abschaffung des zwingenden Antragsgrunds der Überschuldung, der zudem international unüblich ist. „Als Ersatz würde sich ein klarer gesetzlich normierter ‚Shift of Fiduciary Duties‘ anbieten, so wie er im Regierungsentwurf des StaRUG noch vorgesehen war, aber leider nicht Eingang in den finalen Gesetzestext gefunden hat“, erklärt dazu Dr. Leo Plank, Vorstandsmitglied der TMA Deutschland. „Würde auch hierzulande bei Eintritt drohender Zahlungsunfähigkeit das Gläubigerinteresse die bis dahin geltende Orientierung am Gesellschafterinteresse ablösen, würde Deutschland im internationalen Vergleich in diesem Punkt mit erprobten Restrukturierungsordnungen wie in den USA und England gleichziehen.“ Ähnlich sieht das auch Dr. Brömmekamp und meint: „Ich tendiere eher zu einer Abschaffung des Insolvenzgrundes der Überschuldung, weil deren Prüfung gar kein originärer Vermögensvergleich mehr ist, sondern im ersten Schritt – wie beim Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit – eine Liquiditätsbetrachtung erfordert.“
Strikt gegen eine Änderung ist Prof. Dr. Flöther: „Die Überschuldungsregel erfüllt einen wichtigen Zweck: Sie hält Unternehmen an, ihre Liquidität längerfristig zu planen. Und Liquidität ist nun mal das Blut im Körper des Unternehmens. Die Überschuldungsregel abzuschaffen würde also die Probleme vergrößern, anstatt sie zu verringern.“ Ihm tritt Dr. Niering zur Seite, indem er anmerkt: „Seit der letzten großen Krise hat die Überschuldung ein Prognoseelement. Nur weil diese Prognose in der aktuellen Situation durch Corona und den Ukrainekrieg wesentlich schwieriger geworden ist, sollte man nicht gleich auf sie verzichten. Sie macht die Notwendigkeit sichtbar, in guten und in schlechten Zeiten unternehmerisches Handeln durch Planungen abzusichern.“ Dieser Gedanke habe schließlich auch bei der Einführung eines Restrukturierungsverfahrens durch das StaRUG eine ganz wesentliche Rolle gespielt und sei auch im Rahmen von Eigenverwaltungsverfahren mit Insolvenzplänen von zentraler Bedeutung. „Wenn wir also in den Verfahren einen großen Wert auf Planung und Vorausschau legen, dann sollten wir nicht vor dem Verfahren darauf verzichten“, fügt er an.
FAZIT
Die kommenden Wochen und Monate dürften für die Restrukturierungsbranche spannend bleiben. Viele Experten und Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen mit steigenden Fallzahlen bei den Insolvenzen, auch möglicherweise getrieben durch die steigenden Energiepreise und eine Konsumrückhaltung aufgrund der hohen Inflation. Der Arbeitskräftemangel, die Anpassung an den Klimawandel und auch die damit verbundenen Fragen der Energieversorgung machen gerade bei uns in Deutschland große Veränderungen notwendig. Die Insolvenz und ihre Instrumente für einen schnellen Umbau von Unternehmen sind ein ideales Instrument für solche Veränderungen, weil sie zu schnellen Ergebnissen führen und grundlegende Änderungen ermöglichen.
Erschienen in: Magazinausgabe der Unternehmeredition 2/2022
Autor: Alexander Görbing (Redakteur der Unternehmeredition)